Von der Verantwortung für Reporter bis zur Macht der Bilder
1. Wenn Berichterstattung gefährlich wird
In Kriegen ist es oft nicht zu verantworten, Journalisten vor Ort zu lassen
Es war im Januar 1991 – wenige Tage vor dem Golfkrieg und den Bombenangriffen auf Bagdad. Damals war ich Chefredakteur einer großen Regionalzeitung (vergleichbar mit der NRZ) in Süddeutschland. Wie damals üblich, wurde in den Redaktionen stundenlang darüber diskutiert, wie die Berichterstattung über das sich abzeichnende Drama organisiert werden könnte. Uns war klar, dass wir von Saddam Hussein und seinem Regime, aber auch von den Amerikanern und ihren Verbündeten nur gefilterte, ja, sogar gezielt gesteuerte Informationen bekommen würden.
Ein junger Kollege, gerade Vater geworden, hatte sich damals angeboten, nach Bagdad aufzubrechen, um von dort unabhängig zu berichten. Es wäre nicht seine erste heikle Mission gewesen, er war auch schon in anderen Krisenregionen dieser Welt vor Ort. Trotzdem und obwohl er keineswegs ein Draufgänger war, lehnte ich sein Angebot ab. Ich wollte für diese „Dienstreise“ nicht die Verantwortung übernehmen. Die Vorstellung, dass ihm etwas zustoßen könnte, und ich das seiner Familie erklären müsste, war mir unerträglich.
Ich bin heute noch davon überzeugt, dass diese Entscheidung richtig war – auch, wenn der junge Reporter zunächst verärgert war. Als dann am 13. Februar 1991 einige US-Bomben – wohl aus Versehen – nicht nur militärische Einrichtungen zerstörten und es in Bagdad Hunderte von toten Zivilisten gab, fühlte ich mich bestätigt. Auch Journalisten-Unterkünfte wurden damals getroffen.
Wir mussten uns in der Redaktion mit den Informationen zufriedengeben, die verfügbar waren. Es war nicht einfach, Lüge von Wahrheit, Propaganda von Tatsachen zu unterscheiden. Wir haben versucht, das Problem so professionell wie möglich zu lösen – zum Beispiel durch saubere Quellen-Nennung.
Aktuell ist wieder Krieg – in der Ukraine. Viele Journalistinnen und Journalisten, die in Kiew oder anderen ukrainischen Städten positioniert waren, haben sich mittlerweile entweder aufs Land oder ins angrenzende Ausland zurückgezogen. Durch Informationsnetzwerke, die sie vorher aufgebaut haben, versuchen sie eine unabhängige Berichterstattung aufrecht zu erhalten. Respekt, denn auch das erfordert schon Mut.
Auch NRZ-Reporter Jan Jessen war zum Zeitpunkt der russischen Invasion in der Ukraine – und hat eindrucksvolle Texte, Bilder und Videos geliefert. Reportagen, die uns allen geholfen haben, die Situation vor Ort realistischer einzuordnen. Als sich der Panzer-Ring um Kiew zuzog, hat er sich wie Zehntausende Ukrainer auf den Weg zur Grenze gemacht – und auch über diese Flucht berichtet.
Mittlerweile ist er in Sicherheit. Jan, gut, dass Du wieder Zuhause bist! Und falls Du in den nächsten Tagen doch wieder in Richtung Ukraine aufbrechen solltest: Pass gut auf Dich auf!
2. Wenn das Postfach leer bleibt …
Katastrophen verändern die Sichtweisen und die Reklamationsintensität
Der Mail- und Posteingang des NRZ-Ombudsmanns ist ein guter Seismograf für die allgemeine Stimmungslage. Droht Gefahr – eventuell sogar für Leib und Seele –, dann sind Rechtschreibfehler oder fehlende Fußball-Ergebnisse auf einmal nachrangig. Das spricht nicht gegen unsere Leserinnen und Leser. Im Gegenteil: Sie können halt Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden.
Das war schon vor zwei Jahren zu Beginn der Pandemie so. Sie erinnern sich: Damals, als das Virus die Macht über unser Leben und unsere Lebensgewohnheiten übernommen hat. Damals, als noch kein Impfstoff in Sicht war und die „schweren Verläufe“ noch nicht die Ausnahme waren. Wir hatten andere Sorgen als Ärgerlichkeiten rund um die Zeitungslektüre ...
Je mehr – zumindest für die Geimpften – dem Virus seine tödliche Gefahr genommen wurde, veränderte sich wieder die Reklamations-Intensität. Da war plötzlich die schnelle Zustellung wieder ein Thema. Oder die Nicht-Berücksichtigung einer Veranstaltung durch die Lokalredaktion.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will die berechtigten Klagen von Kunden – und das sind Leserinnen und Leser – nicht herabwürdigen. Es ist meine Aufgabe, Ihre Interessen gegenüber der Redaktion und dem Medienhaus zu vertreten. Ich beschreibe nur die Auffälligkeiten in Krisenzeiten.
Und die haben wir aktuell wieder. Der Überfall der Russen auf die Ukraine überschattet alles. Die Sorge vor der Ausweitung dieses Krieges, die Furcht vor einem unberechenbaren Machtmenschen – das alles macht uns Angst.
Selbst dramatisch steigende Corona-Infektionen irritieren die meisten Menschen – auch in der Politik – offensichtlich nicht mehr. Inzidenz-Zahlen von 2000 oder gar 3000 werden einfach so hingenommen. Vergessen sind die Zeiten, wo ich in Bayern nicht im Hotel übernachten durfte, weil in meiner Heimatstadt Düsseldorf die Inzidenz von 50 (!!!) überschritten worden ist. Katastrophen – und dieser Krieg ist eine einzige menschliche Katastrophe – verändern die Sichtweisen.
Die unmittelbare Folge für den Ombudsmann: Mein Mail- und Postfach ist wieder einmal ungewöhnlich leer. Statt der üblichen 8 bis 12 Mails und Briefe am Tag sind es jetzt 8 bis 12 in der Woche …
Diese Arbeitsentlastung kann mich nicht freuen – überhaupt nicht. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Ende des Krieges im Osten Europas – und ein Anschwellen der Leser-Beschwerden. So schnell wie möglich!
3. Das falsche Wort
Eine unachtsame Formulierung, die korrigiert werden muss
Es gibt Formulierungen, die schreibt man, ohne groß darüber nachzudenken: Die Deutschen haben die Weltmeisterschaft gewonnen. Oder: Die Italiener gehen immer erst nach 21 Uhr zum Essen. Das sind Verallgemeinerungen, die einer Detailbetrachtung nicht standhalten, weil das DFB-Team Weltmeister wurde und nicht alle Südeuropäer erst spätabends ausgehen. Sie sind verzeihlich, weil sie Lebensbereiche berühren, die nachrangig relevant sind.
Bei der Klassiker-Überschrift „Wir sind Papst!“ in einer Zeitung, die mit ihrer bildhaften Sprache gern mal überzieht, war das schon anders. In einem Land, in dem 40 Prozent konfessionslos, 24 Prozent evangelisch und 26 Prozent katholisch sind, fühlten sich sehr viele Bundesbürger unpassend vereinnahmt.
Wenn es um Krieg geht, und den gibt es derzeit leider in Europa, da ist es erst recht besonders wichtig, präzise zu formulieren. Das habe ich gerade erst vor zwei Wochen in meiner Kolumne eingefordert. Und das sollte natürlich nicht nur für die anderen Kolleginnen und Kollegen gelten, sondern vor allem auch für mich.
Einige Leserinnen und Leser haben mich zu Recht ermahnt: In meiner letzten Kolumne schrieb ich vom „Überfall der Russen auf die Ukraine“. Nun, ein Überfall ist der von Putin angezettelte Krieg auf jeden Fall. Und Russen sind daran auch ursächlich beteiligt. Doch man sollte keineswegs mit einer unüberlegten Formulierung das russische Volk im Ganzen für den völkerrechtswidrigen Gewaltakt verantwortlich machen. Es ist vor allem der russische Präsident mit seiner ihm ergebenen Machtclique. Daran ändert auch nichts, dass es Umfragen gibt, wonach die russische Bevölkerung Putins Vorgehen zu über 70 Prozent unterstützt. Erstens muss bezweifelt werden, dass die russische Demoskopie dem Standard entspricht, den wir von der Forschungsgruppe Wahlen, Allensbach und anderen Experten für die öffentliche Meinung kennen. Zweitens muss man berücksichtigen, dass die von Putins Propaganda gesteuerten Medien den Menschen in Russland nicht die Wahrheit sagen. Dort wird immer noch von einer „militärischen Spezial-Operation“ gesprochen und nicht von einem Vernichtungskrieg, der keinerlei Rücksicht auf das Leben von Zivilisten nimmt.
Der heldenhafte Protest der russischen Journalistin Marina Ovsyannikova, die während einer Livesendung ein Millionen-Publikum darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Zuschauer von offiziellen Stellen und Sendern belogen werden, zeigt, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger in Russland mit Putins Krieg einverstanden sind. Das gilt auch für die Tausenden von Demonstranten, die trotz der ständigen Gefahr, verhaftet zu werden, immer wieder auf die Straße gehen – in Moskau, in Petersburg und anderswo. Das ist kein Krieg der Russen – und damit auch kein Überfall „der Russen“ auf die Ukraine. Gerade in heiklen Zeiten sollten wir differenzierter denken.
Als Ombudsmann habe ich an alle Kolleginnen und Kollegen die Erwartungshaltung, dass Fehler auch als solche anerkannt werden. Was hiermit geschehen ist. Diese Souveränität ist durchaus mit kritischem Journalismus kompatibel.
4. Die Macht der Bilder
Die Verantwortung der Redaktion bei der Kriegsberichterstattung
Täglich erreichen unsere Redaktion Hunderte von Bildern aus der Ukraine. Fotos, die den Krieg zeigen in all seiner Brutalität und Härte. Die Redaktion steht jeden Tag vor der schweren Entscheidung, welche dieser Bilder sie veröffentlichen soll, vielleicht sogar muss – und auf welche sie verzichtet. Journalisten sind auf der einen Seite in der Pflicht, die Wahrheit zu vermitteln, auf der anderen Seite muss nicht jede Unmenschlichkeit im Bild dargestellt werden. Bilder von Leichen zum Beispiel sind deshalb nicht akzeptabel. Was übrigens nicht nur für militärische Konflikte gilt – auch für Verkehrsunfälle oder andere katastrophale Ereignisse.
Erschwerend kommt hinzu, dass die aktuellen Fotos aus der Ukraine nur sehr schwer auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen sind. Wer welches Haus zerstört hat, ist schnell behauptet, aber nicht bewiesen. Auch ist es vorgekommen, dass Bild-Berichte über besonders verheerende Raketenangriffe über mehrere Tage gerne mal wiederholt wurden, ohne das zu erklären.
Nicht ohne Grund erscheint in unseren Tageszeitungen derzeit immer häufiger der Hinweis, dass der Wahrheitsgehalt von Texten und Bildern nicht unabhängig überprüft werden kann. Das ist auf der einen Seite löblich, weil zumindest eine gewisse Unsicherheit eingeräumt wird. Auf der anderen Seite kann eine Redaktion sich mit diesem Zusatz nicht aus der Verantwortung stehlen, gerade diesen Text oder dieses Foto ins Blatt gerückt zu haben. Besonders die Macht von Bildern darf man nicht unterschätzen. Da werden Emotionen erzeugt und Eindrücke verfestigt. Die bleiben hängen und bestimmen Meinungen. Die journalistische Relativierung hingegen verblasst.
Auch Propaganda funktioniert über Bilder. Wenn das russische Militär in Filmen eine Rakete präsentiert, die von der gegnerischen Flugabwehr nicht aufgehalten werden kann, weil sie sich ihrem Ziel in Überschall-Geschwindigkeit nähert, dann kann das zur Einschüchterung dienen – oder zur Beruhigung der Kreml-Fürsten. Ob diese Waffe überhaupt eingesetzt wurde, ist nicht bewiesen.
Aber auch die Video-Auftritte des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski im Militärhemd sind problematisch. Sein martialisches Auftreten und seine markigen Sprüche mögen aus ukrainischer Sicht vielleicht nachvollziehbar sein, journalistisch betrachtet ist aber auch das Kriegsrhetorik. Und die sollte redaktionell eingeordnet – oder ganz weggelassen werden.
Das gilt auch für die inszenierten Bilder von Selenski. Hier gilt ebenfalls: Diese Fotos und Videos verstärken optisch die Botschaften eines kämpferischen Staatschefs. Letztlich ist auch das eine Art Propaganda.
In der Berichterstattung über Kriege ist es schwierig, die Wahrheit herauszufinden. Offensichtliche Propaganda in Wort und Bild sollte aber niemals unkommentiert weitergegeben werden.
Joachim Umbach, Medien-Ombudsmann, Neue Ruhr Zeitung