Anreize zum Öffnen der eigenen Filterblase
Suchen Sie Streit? Wenn ja, dann bitte medienmündig. Das führt zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft. Die hält Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen in dem gerade im Herbert von Halem Verlag erschienenen Lesebuch „Streitlust und Streitkunst“ für erstrebenswert.
Pörksen spricht, wie das gesamte Buch, alle an. Denn Diskurse führen, dank Digitalisierung, nicht mehr nur Eliten. So reiche es für Medien nicht aus, nur zu verkünden, was man selbst für richtig und wichtig hält. Quellen- und Wissensprüfung sowie Regeln der Recherche seien mitzuliefern. Das sei journalistischer Zweitjob, schreibt der Medienwissenschaftler. Denn jeder und jede, mit Smartphone in der Tasche, sei auch Sender.
Diskurs als Essenz der Demokratie
Das Ziel der Mündigkeit steht im Untertitel des Buchs: „Diskurs als Essenz der Demokratie". Der Herausgeber, Journalistikprofessor Stephan Russ-Mohl, will zusammen mit 24 Autor*innen auf mehr als 450 Seiten zur „Zur Rettung des öffentlichen Diskurses“ beitragen. Die Texte werden, wie es der Züricher Medienforscher Mark Eisenegger für das Schweizer Jahrbuch “Qualität der Medien“ erklärt, mit gesicherten empirischen Grundlagen zu „Diskurs-Stimuli“.
Die Stimuli könnten gleich wirken, wenn sein Mainzer Kollege Hans Mathias Kepplinger vor der Dogmatisierung wissenschaftlicher Befunde warnt. Wörtlich: „Das gefährdet eine Voraussetzung von Demokratie, Meinungsfreiheit, sowie von Wissenschaft, die Freiheit, jeden Befund mit sachlichen Argumenten infrage zu stellen.“ Laut Kepplinger irren Journalisten unter anderem, wenn sie sich schon für kritisch hielten, weil sie engagiert negativ über vermeintliche Missstände berichten. Eines seiner warnenden Beispiele: Als eine kaum bekannte Organisation behauptet habe, dass an Folgen von Stickoxiden in Dieselabgasen jährlich über 100 000 Menschen sterben würden, habe vorzeitiger Dieseltod kritiklos die Medien beherrscht. Lange sei aber unerklärt geblieben, was „vorzeitig“ bedeute.
Journalistische Schwächen
Alle Leser*innen dürfen sich von Senja Post, Professorin für Wissenschaftskommunikation in Göttingen, ertappt fühlen, wenn sie aus sozialpsychologischen Untersuchungen heraus journalistische Schwächen aufzeigt. Danach bilden sich bei Krisenfällen medienübergreifend Annahmen heraus, die zu festen Urteilsnormen werden. Post erklärt Kollegenorientierung als Bewältigung von Ungewissheit.
Schwächen der Auslandsberichterstattung von Korrespondenten in deutschen Medien, die sich vorwiegend aus führenden Blätter des Landes bedienen, macht die in Italien lebende Schriftstellerin und Journalistin Petra Reski kenntlich. Die seien für ein aus zahllosen Allgemeinplätzen bestehendes Italienbild verantwortlich. Dass dafür scheinbar Chaos, Krise, Schlendrian und eine Bevölkerung stehen, die Politclowns auf den Leim gehe, prangert sie mit klaren Quellenangaben an.
Gebrauch des Wortes Populismus disqualifiziert
Warum der Anspruch, aus der Vergangenheit zu lernen, zum Motiv von Sonntagmorgen-Veranstaltungen verkommen ist, darüber räsoniert tiefgründig der in Würzburg geborene Hans Ulrich Gumbrecht, Emeritus an der Stanford University in Kalifornien. Überdies empfiehlt er, auf den Gebrauch des Wortes "Populismus" mit seiner eingebauten Tendenz zu intellektueller Trägheit zu verzichten. Er sei zur gängigen Münze geworden. Doch damit disqualifiziere sich eine globale Schicht von Gebildeten, ganz im Sinn des klassischen linken Intellektuellen Theodor W. Adorno, zu einer neuen Internationalen der Halbbildung.
Lernen müssten wir, so Gumbrecht, dass Niederlagen von Politikern unserer Sympathie, selbst gegen angeblich populistische Konkurrenten, jedenfalls nicht das Ende der parlamentarischen Demokratien anzeigen. Er sieht für Intellektuelle im Berufs- oder Beamtenstatus, wie er selbst, Anlass zu selbstkritischer Reflexion. Wörtlich: "Denn gerade unsere Vorgänger sind immer wieder den Versuchungen rechter oder linker Totalitarismen unterlegen - viel deutlicher als jene tatsächlich populären Wählerschichten, die wir durch die Brille des Populismusbegriffs nicht zu sehen vermögen."
Zuhören und lernen
Herausgeber Russ-Mohl wünscht am Ende Gesprächsbereitschaft und die Bereitschaft, zuzuhören und zu Lernen. Das Buch kann tatsächlich anregen, eigene Filterblasen oder Echokammern zu erkennen und sie zu öffnen. Es kann außerdem, so Ulf Poschardt, über Mündigkeit zu einer bewussteren Art zu leben führen. Und das sei nicht bequem. Das Buch lässt auf Fortsetzung der Reihe zum Diskurs hoffen.