Immer wieder wünschen sich Leser "neutrale" Journalisten
Es geht den Kritikern vor allem um die Berichterstattung über Protestveranstaltungen gegen die Corona-Politik und -Maßnahmen. "Mir wurde vermittelt, dass man dort übelste Leute treffen würde - tut mir leid, ich zumindest traf dort keine", schreibt uns ein Leser. Er vermisse Ausgewogenheit. Ein anderer Leser fordert uns auf, zu einer "neutralen und vernünftigen Berichterstattung" zurückzukehren. In einer Mail werden eine "diffamierende und unseriöse Berichterstattung" und "Berichte und Kommentare voller Hass und Hetze" beklagt. "Es werden Tatsachen verdreht und Wahrheiten weggelassen", schimpft ein weiterer Leser.
Auch erreichte uns ein Hinweis auf das, was der frühere "Tagesthemen"-Moderator Hanns Joachim Friedrichs (verstorben 1995) gesagt hatte: "Ein guter Journalist darf sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten." Hier erachte ich es für wichtig, auf eine Rede der Fernsehmoderatorin Anja Reschke ("Panoroma", "Wissen vor acht") aufmerksam zu machen, die sie hielt, als sie 2018 den Friedrichs-Preis verliehen bekam. Diese Auszeichnung würdigt seit 1995 herausragende Leistungen des kritischen Fernsehjournalismus.
Das berühmte Friedrichs-Zitat
Hajo Friedrichs, so erläuterte Reschke damals, werde seit Jahren falsch zitiert beziehungsweise reiße man seinen Satz aus dem Zusammenhang. Seine Worte, sich mit keiner Sache gemein zu machen, stammten aus dem letzten Interview, das er kurz vor seinem Tod dem "Spiegel" gegeben hat. Auf die Frage, ob es ihn gestört habe, als Nachrichtenmoderator ständig den Tod präsentieren zu müssen, antwortete Friedrichs: Nein, er habe es stets mit dem Grundsatz gehalten, den er bei der BBC gelernt hatte: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken. "Es ging in diesem Kontext also darum, wie man es schafft, auch die schlimmsten Katastrophen-Meldungen vorzutragen, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ging in dieser Frage und in der Antwort nicht darum, ob man sich als Journalist neutral verhalten müsse", unterstrich Reschke.
Man tue Friedrichs also unrecht, wenn man ihn als Journalisten ohne Haltung darstelle. "Ich nehme an, Hanns Joachim Friedrichs wäre nicht einverstanden damit, dass er benutzt wird von bestimmten Gruppierungen, die damit ihre persönliche Sicht durchsetzen wollen, was Journalismus darf und was nicht", befand Reschke und fügte hinzu: "Wissen Sie, ich habe lange nachgedacht, (...) ob ich das kann, mich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Ob wir Journalisten das können. Ob wir das überhaupt sollen. Wir müssen nicht darüber reden, dass auch wir als Journalisten keine neutralen Wesen sind, dass wir unsere Haltung in uns tragen, dass wir trotzdem unser Handwerkszeug von Recherche und Ausgewogenheit beachten können. Aber ich denke, wir müssen uns gemein machen mit einer Sache. Und zwar mit einer guten. Unserer Verfassung. Wir, die Presse, die öffentlich-rechtlichen Sender im Besonderen, haben einen Auftrag bekommen von den Alliierten nach dem Krieg. Teilhabe an der freien demokratischen Meinungsbildung zu gewährleisten. Mündige Bürger, Deutschland zu einem demokratischen Land zu machen und diese Demokratie zu bewahren."
Zurück zu den Lesern, denen die Corona-Berichterstattung missfällt. Ein Ehepaar zeigt sich "sehr enttäuscht" von der Amberger Zeitung, die ihrer Ansicht nach "immer mehr zum ,Meinungsblatt' mutiert". Es schreibt: "Die Meinungen Ihrer Redakteure feuern umstrittene Themen noch mehr an. Von einer Tageszeitung erwarten wir eigentlich eine korrekte und neutrale Berichterstattung/Nachrichten ohne persönliche Meinung des Berichterstatters. Diese kann man zum Großteil schon aus dem jeweiligen Bericht herauslesen. Da können wir in Zukunft auch die ,Bild'-Zeitung kaufen." Es seien "doch nicht alle Demonstrationsteilnehmer automatisch Impfgegner oder ,Schwurbler'". Die Coronapolitik in Deutschland sei das Problem. Die Zeitung habe sich inzwischen zu einem "Instrument der Politik entwickelt", lautet der Vorwurf des Ehepaares.
Nicht das Gelbe vom Ei
In meiner Antwort schrieb ich dem Ehepaar unter anderem: "Dass nicht alle Teilnehmer solcher Demonstrationen grundsätzlich Impfgegner oder sogenannte ,Schwurbler' sind, sehe ich auch so. Dass die Corona-Politik in Deutschland oftmals nicht das Gelbe vom Ei ist und war, dem kann ich mich ebenfalls anschließen. Dass wir hier als ,Instrument der Politik' agieren, möchte ich freilich nicht so stehen lassen. Auch hier hat man bei uns immer wieder kritische Kommentare lesen können. Zum Thema ,Meinung von Redakteuren' möchte ich betonen: Der Leser sollte immer erkennen können, was Nachricht und Information ist und was Meinungsäußerung. Am besten ist deshalb eine saubere Trennung, insbesondere bei politischen Beiträgen. Mit anderen Worten: Meinung wird gekennzeichnet und von der Nachricht auch optisch abgesetzt.
Wir leben in einer Demokratie, und deshalb denke ich, sollten wir alle die Meinung von anderen aushalten können, auch wenn sie einem völlig gegen den Strich geht. Meinungen von Redakteuren gehören ebenfalls in eine Zeitung, denn Aufgabe von Journalismus ist es unter anderem, zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen. Aus Befragungen von Lesern wissen wir: Die große Mehrheit von ihnen erwartet sich zu relevanten Themen Einordnung und Kommentierung seitens der Redaktion.
Jeder hat hier eine Meinung
Ansonsten würde ich mir wünschen, dass Sie - auch wenn man sich über manche Berichte ärgert, weil sie nicht der eigenen Erwartungshaltung entsprechen - der AZ gewogen bleiben. Corona ist und bleibt ein schwieriges Thema. Es ist meiner Ansicht nach das erste Thema überhaupt, das wirklich jeden, jeden von uns betrifft und berührt und zu dem jeder von uns eine eigene Meinung hat. Die des anderen gelten zu lassen, das erleben wir täglich, ist manchmal nicht leicht. Nach zwei Jahren Pandemie ist die nervliche Belastungsgrenze eben bei vielen erreicht."
Zum Thema "Neutralität" fällt mir noch ein Beitrag der Journalistin und Autorin Rita Stiens ein, in dem es unter anderem heißt: ""Dass das Wort neutral nicht im Pressekodex vorkommt, hat einen guten Grund. Wer sollte der Schiedsrichter sein bei der Frage, ob ein Artikel neutral ist oder nicht? Partei-Repräsentanten sind schon gar keine ,neutralen' Betrachter und Beurteiler, denn sie betrachten die Dinge naturgemäß durch die parteiliche Brille. Was der eine für ,neutral' hält, ist für den anderen alles andere als ,neutral'. Wie sähe ein neutraler Bericht aus einer ein- oder zweistündigen Ratssitzung aus? Gäbe es so etwas wie Neutralität, müssten zwei oder drei Journalisten, die in einer Sitzung sitzen, am Ende nahezu identische Artikel schreiben mit nahezu identischer Überschrift. Ein Neutralitätsgebot für Medien gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben. Journalisten tragen durch ihre Arbeit zum Prozess der Meinungsbildung bei, und genau das sollen sie auch."
Jürgen Kandziora ist Leseranwalt bei Oberpfalz Medien in Weiden. Dort ist dieser Beitrag zuerst erschienen.