#VDMO
Vereinigung der Medien-Ombudsleute
, Anton Sahlender

Über den Umgang mit Suizid / „Wir wissen oft nicht, was das Richtige ist, auch als Journalisten nicht“

Der MT-Chefredakteur Benjamin Piel in seinem Newsletter zu den Ergebnissen eines Nachdenkens in der Redaktion.

In dieser Woche haben wir uns in der MT-Redaktion damit beschäftigt, wie wir mit dem Thema Suizid umgehen sollen (übrigens gibt es hier telefonisch Hilfe für Menschen, die nicht mehr weiterwissen: 0800 111 0 111 [Telefonseelsorge] oder 116 111 [Nummer gegen Kummer]).
 
Entscheidungen rund um das Thema beschäftigen uns immer wieder. Vor allem haben Journalisten Sorge, dass das allzu arglose Berichten über Selbsttötungen Nachahmer motivieren könnte. Die Sorge ist durchaus begründet, denn es gibt den sogenannten Werther-Effekt (angelehnt an Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“).

Wie gehen wir damit um? Wenn jemand beispielsweise vermutlich Schienensuizid begangen hat und deshalb eine Bahnstrecke gesperrt ist, nennen wir Letzteres, schreiben aber ansonsten nur von einem Unfall oder Personenschaden. Einerseits, um keine Nachahmer zu motivieren, andererseits auch, weil oft erst später sicher klar wird, ob es sich um eine Selbsttötung gehandelt hat oder nicht. Wir versuchen also, das Thema in seiner akuten Dimension höchstens zurückhaltend zu nennen.

Auf der anderen Seite wollen wir es auch nicht aussparen, denn es handelt sich um eine erhebliche gesellschaftliche Herausforderung. Zwischen 9.000 und 11.000 Menschen nehmen sich in Deutschland pro Jahr das Leben. Das sind in etwa drei Mal so viele wie Todesopfer im Straßenverkehr. Was für eine erschreckende Zahl, was für ein Leid, dass sich für Betroffene und Angehörige dahinter verbirgt.
 
Deshalb wäre es bei aller berechtigten Zurückhaltung der Redaktion unangemessen, das Thema schlicht wegzulassen. Da liegt ja ein Problem und also muss es auch angesprochen werden. Dieser Meinung ist übrigens auch Helmut Dörmann, Geschäftsführer des Hospizkreises Minden. Er begleitet unter anderem Angehörige von Menschen, die sich das Leben genommen haben und war in der Redaktion als Experte zu Gast, um uns wertvolle Einordnungen zum Thema an die Hand zu geben. Übrigens hat MT-Redakteurin Claudia Hyna vor zwei Jahren einen sehr bewegenden Text über Angehörige geschrieben (zum MT-Bericht). Diese Art Berichterstattung ist vielleicht die angemessenste zu dem Thema – nicht den Akt als solchen fokussierend, sondern das Leid, das er für die Zurückbleibenden bedeutet.

In unserer Runde fiel auch ein Satz, der mich im Nachgang weiter beschäftigt hat: „Wir wissen oft nicht, was das Richtige ist, auch als Journalisten nicht – und vielleicht wäre es manchmal besser, das zuzugeben, statt so zu tun, als wäre es anders.“ Das ist leichter gesagt als getan, denn wir wissen als Medienleute, dass unsere Leser und Nutzer Antworten bekommen möchten. Passt da auch der Satz ins Bild: „Ich weiß es auch nicht.“ Erstmal nicht, auf den zweiten Blick aber schon. Denn wer als Journalist meint, alles verstehen und treffend einordnen zu können, überschätzt sich. Warum soll man das nicht hin und wieder ehrlich zugeben? Womöglich schätzt das Publikum diese Ehrlichkeit mehr, als wir denken.

Mir geht es gerade bei den Waffenlieferungen an die Ukraine so. Das Thema zerreißt mich – und vielleicht geht es einigen von Ihnen ja auch so. Einerseits behagt es mir ganz und gar nicht, dass bald deutsche Panzer auf Russen schießen werden. Der Satz ist ja an sich schon schrecklich. Wie sehr wünsche ich mir den Frieden. Wie sehr verabscheue ich, dass abertausende Menschen sterben müssen, weil ein Diktator ein Land überfällt. Kann es überhaupt gut gehen, ein Land, das einer militärischen Übermacht gegenübersteht, mit immer mehr und immer schwereren Waffen auszustatten? Oder verlängert es nur das Leid und führt am Ende doch dazu, dass die Ukraine keine Chance hat?

Der Philosoph Peter Sloterdijk denkt in etwa so, wie er in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ offenbart hat. Auch wegen der Sorge vor einer atomaren Eskalation des Konflikts. Heute laute die Aufgabe viel eher, Putin so scheitern zu lassen, „dass wir nicht mit untergehen“, sagt Sloterdikt. Er versteht das – inzwischen ja nicht mehr gegebene – Festhalten der Bundesregierung an der Lieferung von bloßen Verteidigungswaffen nicht als Führungsschwäche von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der dafür in die Kritik geraten war.
 
Und auch ich verspüre ein Unbehagen, wenn ich sehe, wie lautstark einige Waffenlieferungen fordern. Das hört sich manchmal – sorry – fast nach Kriegsbegeisterung an, die mich erschauern lässt. Das Scholz‘sche Zögern habe ich deshalb gerade nicht als unangemessen empfunden (so sehr mir die Zurückhaltung des Kanzlers insgesamt oft missfällt).

Aber selbstverständlich hat das Thema auch eine ganz andere Seite. Denn auf die Frage nach der Alternative nach Waffenlieferungen habe ich auch keine Antwort. Sollen westliche Mächte aktiv in den Krieg einsteigen? Bitte nicht. Die angegriffene Ukraine sich selbst überlassen? Wohl kaum. Denn das würde Russland das Signal senden, dass es ganz einfach ist, sich ganze Länder einzuverleiben. Es würde letztlich mehr und nicht weniger Krieg bedeuten.

Es bleibt zumindest bei mir die schmerzhafte Erkenntnis, dass es Situationen gibt, in denen man einfach nicht weiter weiß und dann für etwas sein muss – in dem Fall die Waffenlieferungen –, obwohl das Bauchgefühl dagegen rebelliert. Schlicht, weil es rational betrachtet keine Alternative gibt, die gut zu begründen wäre.

In der Redaktion ist gerade gestern eine merkwürdige Botschaft angekommen. Ein kleiner Zettel, der von einer Nähnadel durchstochen war. Darauf die Worte: „Ein kleines Waffengeschenk… Mit Waffengeschenken begannen die Milliardengeschäfte der Rüstungsindustrie in aller Welt. Rüstungsexporte sind indirekt und direkt verantwortlich für millionenfachen Tod.“ Das ist eine anonyme Meinungsäußerung, die mich auch deshalb etwas ratlos zurücklässt, weil das so klingt, als wären Journalistinnen und Journalisten, an die sich diese Botschaft richtet, begeisterte Anhänger der Rüstungsindustrie. Doch auch da gilt: So einfach ist es nun mal nicht (siehe oben).

Was denken Sie zu diesem Thema? Antworten Sie gerne per Mail auf diesen Newsletter.

Ein neues Format: Die Mindener Mediengespräche

Medienkompetenz ist etwas, das sich theoretisch anhört, aber eigentlich wichtig für den Alltag ist. Denn während die Allgemeinheit früher eher passiv Zeitung las und Radio hörte, sind wir heute alle zu Aktiven in der vernetzten Informationswelt geworden. Wir teilen eigene Texte, Videos und Bilder auf WhatsApp oder Instagram. Wir leiten weiter, was uns andere zugeschickt haben. Wissen wir immer so genau, was wir da weiterverbreiten? Obwohl ich Journalist bin und das Recherchieren beruflicher Alltag ist, fühle ich mich angesichts der Flut an Nachrichten und Bildern, die da in irrer Anzahl und Geschwindigkeit auf mich einprasseln, manchmal überfordert. Man muss sich schon erheblich disziplinieren, um alles ausreichend zu prüfen. Was ist wahr? Welche – mitunter auch düsteren – Absichten hat der Absender? Was ist Tatsache, was Falschinformationskampagne?

Weil einiges in diesem Zusammenhang ganz schön verworren ist, ist Journalismus in den zurückliegenden Jahren zwar einerseits unter Druck, weil er mit Sozialen Netzwerken und anderen Kommunikationskanälen um die Aufmerksamkeit und Zeit der Menschen konkurriert. Aber Journalismus ist auch wichtiger geworden, denn Profis, die recherchieren können, schlagen Orientierungsschneisen ins Dickicht des Informationsdschungels. Sie sichten, sortieren, ordnen ein, damit die Welt überhaupt verständlich bleibt.

Doch zwischen Medienmachern und Mediennutzern ist teilweise eine Distanz entstanden. Ob zu Recht oder zu Unrecht, sei an dieser Stelle nicht diskutiert, aber immer wieder höre ich Menschen sagen, dass sie Journalisten nicht vertrauen können, zumal sie ja gar nicht wüssten, wer die überhaupt seien. Die Mindener Volkshochschule (VHS) und das Mindener Tageblatt haben sich vorgenommen, ihren Beitrag zu leisten, um beide Seiten miteinander ins Gespräch zu bringen. Vier Mal im Jahr möchten wir Journalisten für die neue Veranstaltungsreihe „Mindener Mediengespräche“ in die Stadt holen und zur Diskussion mit ihnen einladen.  

Für das Jahr 2022 sind vier Veranstaltungen geplant. Alle sind kostenlos und beginnen jeweils um 19 Uhr im Theater am Weingarten, Königswall 97. Los geht es in der kommenden Woche, am Dienstag, 3. Mai, dem Tag der Pressefreiheit, mit Matthias Kalle, MT-Ombudsmann und ehemaliger stellvertretender Chefredakteur des „Zeit Magazins“. Er wird etwas zur Bedeutung der Pressefreiheit und seinen Erlebnissen als Ombudsmann sagen. Im Gespräch mit VHS-Direktor Marco Düsterwald und MT-Lokalleiter Henning Wandel ist außerdem Raum für die Fragen und Anregungen. Eine Anmeldung ist hier möglich.

Die weiteren drei Termine in diesem Jahr: Tagesthemen-Chefredakteur und -Moderator Helge Fuhst berichtet am 16. August, wie die Tagesthemen ihre Nachrichten auswählen und gewichten. Aus seinem neuesten Buch „Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents“ liest am 19. Oktober Bartholomäus Grill, der frühere Afrika-Korrespondent von Spiegel und Zeit.
 
Und der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Michael Haller ist am 22. November zu Gast in Minden. Er berichtet über seine Forschung, in der er die Arbeit von Journalisten immer wieder kritisch beleuchtet. Zuletzt hatte er mit einer Untersuchung zur Corona-Berichterstattung Aufsehen erregt. Hier gibt es ein Interview mit VHS-Direktor Marco Düsterwald und mir, warum wir die Reihe gestartet haben (zum MT-Interview).